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In Seite Musterung:
"Grundsatzkritik an der Institution der unfreiwilligen „Musterung“ steht meistens in engem Zusammenhang mit einer kritischen Haltung oder Ablehnung gegenüber der Wehrpflicht oder der Gesamtinstitution Militär als solcher.
Die grundsätzliche Kritik an der Musterung entzündet sich dabei in erster Linie an dem Spannungsverhältnis, in dem die Institution „Musterung“ nach Auffassung ihrer Kritiker zum Grundsatz der „Unverletzlichkeit der Menschenwürde“ steht. Die Quelle für dieses Spannungsverhältnis erblicken die Kritiker in der Regel in dem Umstand, dass militärärztliche Tauglichkeitsuntersuchungen, die aufgrund der Wehrpflicht erfolgen, auf unfreiwilliger Basis durchgeführt werden, diese Untersuchungen also einen Zwangscharakter besitzen. Hierbei wird zumeist darauf hingewiesen, dass die Praxis, Menschen zu zwingen, anderen Menschen auf unfreiwilliger Basis an ihren Körper „ranzulassen“ in jedem anderen Zusammenhang als schwerer Übergriff und sogar als Verbrechen gilt und es keinen Grund gebe, dies im Rahmen der Musterung anders zu bewerten, nur weil derjenige, von dem dieser Zwang im Rahmen der Musterung ausgeht, der Staat bzw. eine Behörde und keine Privatperson ist.
Der Zwangscharakter der unfreiwilligen Musterung wird zudem von Kritikern häufig als ein Verstoß gegen das sonst allgemein anerkannte Prinzip der freien Arztwahl (und der damit einhergehenden Option, sich nach Wunsch auch überhaupt nicht ärztlich untersuchen zu lassen) gewertet. Hieran wird insbesondere die Frage angeknüpft, ob eine unfreiwillige ärztliche Untersuchung überhaupt noch als ärztliche Untersuchung gelten kann, da ihr das für ärztliche Untersuchungen ansonsten stets als wesensbestimmend angesehene Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient fehlt. Auch wird in diesem Kontext immer wieder darauf hingewiesen, dass zwangsweise ärztliche Begutachtungen atypisch für Rechtsstaaten sind, was es abseits der Musterung nur im Rahmen von zwangsweisen Leibesvisitationen im Rahmen des Strafvollzugswesens und (theoretisch) in der Seuchenbekämpfung gibt. Daran knüpfen Kritiker die Schlussfolgerung, dass die Institution der zwangsweisen Musterung nicht zum Konzept eines Rechtsstaates passe.
Nicht selten wird von Musterungs-Kritikern auch darauf verwiesen, dass der Status des (unfreiwillig) Begutachteten, den der Musterungskandidat bei unfreiwilligen Musterungen einnimmt, diesen von einem Subjekt zu einem Objekt, von einem Menschen zu einem „Ding“ degradiert. Die standardisierte Untersuchungsprozedur und die – theoretisch – feste Verknüpfung bestimmter Eindrücke und/oder Feststellungen durch den die Untersuchung durchführenden Arzt mit einer bestimmten Tauglichkeitsentscheidung, d. h. das Prinzip, dass die mit der Durchführung der Musterung beauftragten Militärärzte das Feststellen bestimmter körperlicher Eigenschaften/Eigenschaftskombinationen und Befunde mechanischen Zuordnung automatisch mit der Zuteilung eines bestimmten Urteils (tauglich/untauglich) beziehungsweise eines bestimmten Tauglichkeitsgrades (bzw. einer bestimmten Einstufungsziffer) quittieren, wird überdies häufig als eine Missachtung der menschlichen Individualität aufgefasst. Zum Beispiel das Verhältnis Körpergröße zu Gewicht, der Blutdruck, die Sehstärke etc. in Form einer durch einheitliche Bewertungsrichtlinien und Vorgaben. Diese besagen, dass das Vorliegen/Festgestellt-Werden von Gegebenheit x mit Maßnahme/Entscheidung y zu sanktionieren ist. Also ein bestimmtes Problem in dem entsprechenden Bereich des Bewertungsbogens mit einer bestimmten Fehlerziffer bzw. das Nicht-Vorliegen eines bestimmten Problems mit einer Positivziffer zu vermerken ist. Menschen würden so aufgrund von äußerlichen Kriterien künstlich gleichgesetzt, „als ob sie identische Maschinenteile einer Bauart“ seien. Befürworter der Musterung halten dieser Kritik wiederum entgegen, dass eine „Schematisierung“ oder Gleichsetzung der Gemusterten unumgänglich sei, um die Institution vor dem Vorwurf der Willkür zu bewahren und um dem Gleichheitsgrundsatz genüge zu tun.
Die allgemeine Kritik an der Musterung deckt sich mit der allgemein an militärischen Strukturen geübten Kritik: Die Einschränkung der individuellen Freiheit und der Entfaltung des Einzelnen sowie die „Abfertigung“ des Musterungskandidaten nach einer festen Prozedur werden als eine Reduktion des Gemusterten vom Menschen zum Objekt bewertet. Der Mensch werde so zum Verfügungsgegenstand anderer gemacht. So wird die Musterung mitunter auch mit der Begutachtung von Industriegütern verglichen. Umstritten sind von den Kritikern immer wieder angestellte Vergleiche, die die Musterung mit Begriffen wie „Fleischbeschau“, „Pferdemarkt“, „Menschenmaterialbegutachtung“ oder „TÜV“ als eine vermeintlich menschenverachtende Institution kennzeichnen.
Eine vor allem in gesellschaftskritischen und literarischen – aber auch sonstigen künstlerischen – Annäherungen an das Phänomen Musterung häufig anzutreffende Auffassung ist die Bewertung der (Zwangs-)Musterung als einer existentiellen Verfehlung: Einer Sünde gegen den Mitmenschen (bzw. gegen das Leben an sich), derer sich die politischen/militärischen Machthaber, die dafür verantwortlich sind, dass die Institution der unfreiwilligen Musterung überhaupt existiert, sowie die Personen, die die praktische Durchführung von unfreiwilligen Musterungen im Auftrag der Machthaber als berufliche Aufgabe übernehmen, schuldig machen. Typische Elemente von derartigen Kritiken an der Musterung sind:
- Die Identifizierung der Musterung als einer in sich selbst (bzw. aus sich selbst heraus) verwerflichen Institution, die die natürlichen zwischenmenschlichen Beziehungen durch die Art, wie sie die an ihr beteiligten bzw. von ihr betroffenen Personen in Beziehung zueinander stellt, pervertiert, indem sie eine Gruppe von Menschen (die Musterlinge) zu entmündigten und hilflosen Verfügungsobjekten einer zweiten Gruppe von Menschen (des Musterungspersonals) oder auch eines – in kafkaesker Weise als eine unpersönliche, gesichts- und seelenlose Maschine wahrgenommenen – Verwaltungsapparates degradiert, der Menschen in lebensfeindlicher Weise nach einem bestimmten Schema erfasst, an sich zieht und verarbeitet.
- Die Degradierung der Musterungsopfer von lebendigen Wesen zu „lebendigen toten Gegenständen“, die in kalt-empathieloser Weise auf ihren Materialzustand und ihre Verwertbarkeit für bestimmte Zwecke besichtigt (und zugleich auf ihren Zweckcharakter in dieser Hinsicht reduziert) werden.
- Die Negierung des Status des einzelnen Musterungskandidaten als einem empfindsamen Individuum durch seine Behandlung als einem von beliebig vielen identisch-austauschbaren Objekten einer bestimmten Sorte, die dementsprechend nicht individuell behandelt, sondern im Fließbandverfahren nach dem immer gleichen Schema abgefertigt und nach einem einheitlichen System eingestuft, klassifiziert und etikettiert werden.
Die Musterung wird hierbei also eine ontologische Verwerfung angesehen, derer sich der moderne technokratische Verwaltungsstaat schuldig macht, indem er das wahre Wesen des Menschen und seine inneren Bedürfnisse zugunsten der starren Anwendung und Umsetzung von abstrakten Verwaltungsvorschriften und Richtlinien missachtet. Die Musterung wird als ein Angriff auf die seelische Integrität des Menschen begriffen, da sie ihn um des Selbstzweckes der Befriedigung des bürokratischen Prinzips, eine unhinterfragte, von „oben“ festgelegte, künstliche Struktur in einheitlich-unterschiedloser Weise umzusetzen, einer Situation unterwirft, die seiner Natur und seinem Wesen zuwider ist und ihn damit von sich selbst entfremdet und entwürdigt.
Eng mit diesen Deutungen verbunden ist das in entsprechenden Deutungen routinemäßig anzutreffende Bild vom Musterungslokal – d. h. dem Schauplatz dieses Übergriffs auf die Seele des Einzelnen und auf das Leben an sich – als einem Realität gewordenen locus horribilis, einem Alptraumort, an dem Menschen ins Unglück gestürzt und innerlich beschädigt (oder gar zerstört) werden, sowie die Wahrnehmung des Musterungspersonals, speziell der Musterungsärzte, als menschgewordenen Verkörperungen der Unmenschlichkeit: Als kaltherzigen Kreaturen, die ihre „Opfer“ während der Begutachtung in ungerührt, apathisch-teilnahmsloser und rücksichtsloser Weise abfertigen – oder sie mitunter auch gezielt in sadistischer Weise demütigen und quälen – um sie schließlich mit ihrem Urteil („tauglich“) erbarmungslos-mitleidlos zu einem Schicksal des Leides (in Kriegsszenarien: dem Zwang in die Hölle des Krieges ziehen zu müssen; in Friedensszenarien, dem Entzug der Freiheit und dem Zwang auf eine Weise leben zu müssen, die als unglücklichmachend und lebensqualitätsbeeinträchtigend empfunden wird) zu verurteilen.
Große Verbreitung haben derartige Blickweisen auf die Institution Musterung seit dem Ersten Weltkrieg gefunden, während dessen die Militärbehörden dafür verantwortlich waren, in industriellem Maßstab viele Millionen Menschen auf Grundlage der Musterung zwangsweise auszuheben und dem Kämpfen (und Sterben) auf den Schlachtfeldern Europas zuzuführen:
So beschrieb der Schriftsteller Kurt Tucholsky den Typus des Musterungsarztes als einen „Hausknecht des Krieges“, einen „Zuhälter des Todes, der sich Arzt nannte“, der als „Auftreiber in Diensten der Kanonenfutterzentrale“ (d. h. des Musterungsamtes) sich der Aufgabe verschrieben habe, Menschen in „ein paar hunderttausend Liter Blut, zum Schmieren der Kriegsmaschine“ zu verwandeln. Durch ihre Bereitschaft hieran mitzuwirken seien die betreffenden Ärzte von ihrer eigentlichen Aufgabe, Feinde der Krankheiten und des Todes zu sein, zu Feinden des Lebens, also zum Gegenteil dessen was ihr Berufsstand eigentlich sein sollte, geworden.[1] Der österreichische Essayist Alfred Polgar zeichnete zur selben Zeit in gleicher Weise das Bild von den Musterungsärzten als Bluthunden, die dem Sterben auf den Schlachtfeldern den Nachschub „apportiert“ hätten: So beschrieb er in seinem Aufsatz Der Teisinger den Rekrutierungsbeamten Teisinger als einen Menschenjäger, einen „stumpfen, urteilslosen, fleißigen Gehilfen in der Großmetzgerei des Krieges“, der während der Jahre 1917 und 1918 – begleitet von einem Militärarzt als seinem „gut abgerichteten Jagdhund“ – auf die „Pirsch“ nach Opfern gegangen sei, die er als menschlichen Nachschub in den Schlund des Krieges geworfen habe: Als dienstbeflissener Gehorsamsmensch habe er das „rudelweise vor ihn getriebenen schlotternden“ Menschenmaterial, unbeeindruckt von dem ihm entgegenschlagenden „Dunst von Seelenqual, Schweiß und Todesangst“ mitleidlos ins Verderben geschickt habe, indem er Versuche die Ausmusterung zu erlangen, erbarmungslos abgeschlagen und als „Unheilland“ „die Lahmen aufstehen und (in die Schützengräben) gehen“ habe lassen, „die Blinden (den Einrückungsbefehl) sehen“ habe lassen und „die Tauben (ihr Todesurteil) hörend“ gemacht habe.[2] Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, ein Überlebender des Warschauer Ghettos, stellte eine mehrbändige Sammlung von Aufsätzen Polgars, die er 1983 herausgab, aufgrund der großen Zahl von Beiträgen Polgars, die autoritäre Institutionen wie das Militär in kritisch-prüfender Weise besichtigen, unter dem Titel Musterung, wobei Reich-Ranicki – in Rückschau auf seine eigene Biographie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – die „herzlosen Militärärzte“, als den Ermöglichern des Krieges, als einen von mehreren Urtypen der Unmenschlichkeit herausstellte, welche Polgar dem Leser in seinem Werk eindringlich vorzuführen versuche, um ihm begreifbar zu machen, vor welchen Sorten von Mensch er sich hüten sollte, da sie durch ihre fatale Wirksamkeit dafür verantwortlich gewesen seien, einem ganzen Zeitalter sein leidvolles Gepräge aufzudrücken und dies durchaus wieder tun könnten.[3]
Auch im englischsprachigen Raum finden sich derartige Sichtweisen auf die Institution Musterung seit dem 20. Jahrhundert in großer Zahl: So ließ der Country-Sänger Johnny Cash die quälende Erinnerung an seine eigene Musterung zur Zeit des Koreakrieges in seinen Song The Man Comes Around einfließen, in dem er mit den Zeilen „There's man goin' 'round takin' names./ An' he decides who to free and who to blame“ auf die als bedrückend und verstörend empfundene Entscheidungsmacht der Musterungsärzte anspielte, entscheiden zu dürfen, wer (zu Kriegszeiten) unfreiwillig an die Front geschickt wird und wer nicht bzw. wer (im Frieden) seine Freiheit weggenommen bekommt und zum Militär einrücken muss (und dort ein unglückliches Dasein fristen muss) und wer hiervon verschont bleibt.
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