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In Seite Murrhardt:

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Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die wirtschaftlichen Verhältnisse im neu errichteten Königreich Württemberg noch ärmlich. Die Napoleonischen Kriege lasteten wegen durchziehender und in der Stadt Quartier nehmender Truppen schwer auf der Bevölkerung. 1806 wurde das Klosteramt aufgelöst und Murrhardt dem Oberamt Backnang unterstellt. 1838 wurde mit dem Kameralamt (Finanzamt) die letzte überregionale Behörde ebenfalls nach Backnang verlegt. Die öffentlichen Einrichtungen, also Kloster und herzogliche Ämter, die in früheren Zeiten die Wirtschaft der Stadt belebt hatten, fielen nunmehr weg. Dennoch wuchs die Bevölkerung; um 1830 überschritt sie die Zahl 2000; mehr und mehr entwickelten sich Handel, Handwerk und Gewerbe.

In Murrhardt gab es schon damals freiheitlich-demokratisch gesinnte Bürger, der bekannteste war der Schlossermeister Ferdinand Nägele (1808–1879). Im März 1848 wurde er als einziger Handwerker zum Abgeordneten der Nationalversammlung in die Frankfurter Paulskirche gewählt, das erste durch Volkswahl bestimmte Parlament Deutschlands. Nägele gehörte zur damaligen politischen Linken. Er forderte einen kostenlosen Schulbesuch für Kinder und eine allgemeine Bewaffnung des Volkes. Nägele lehnte die Monarchie ab und gehörte den Großdeutschen an, die ein vereintes Deutschland unter Einbeziehung Österreichs forderten. Nägele gehörte auch dem so genannten Rumpfparlament an, das bis Juli 1849 in Stuttgart tagte.[1] Als ihn nach dem Scheitern der Deutschen Revolution die Murrhardter 1853 zum Stadt-Schultheiß wählten, durfte Nägele auf Geheiß des königlich-württembergischen Innenministeriums das Amt nicht antreten. Er stritt gleichwohl weiter für den Anschluss von Murrhardt an das Streckennetz der Württembergischen Eisenbahn. Bis dahin war Murrhardt schlecht an die Verkehrswege angeschlossen. Im September 1843 war eine Postexpedition im Gasthof Sonne eingerichtet worden – seither hieß er Sonne-Post. Die Waren wurden meistens auf Pferdefuhrwerken transportiert. Der Anschluss des Murrtals an das Netz der Württembergischen Staatsbahnen erfolgte 1878. Da erreichte die Murrtalbahn Murrhardt. Es war ein Wendepunkt in der Geschichte der Stadt, zumal das Holz, Hauptprodukt der Gegend, durch den Bahntransport konkurrenzfähig wurde.

Am 22. Dezember 1934 stießen auf der eingleisigen Bahnstrecke zwischen Murrhardt und Sulzbach auf der Höhe von Schleißweiler zwei Züge zusammen. Ursache des Unglücks war ein Signalfehler; zehn Menschen starben. 1996 wurde die Strecke elektrifiziert. Ein Anschluss an das Stuttgarter S-Bahnnetz wurde aus Kostengründen bisher nicht verwirklicht. Im Oktober 2005 fuhren wegen einer Streckensperrung bei Fichtenberg zwei Tage lang S-Bahn-Züge Murrhardt an.

Durch die Nachbarschaft zur Gerberstadt Backnang entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts am Ort die namhafte Lederproduktionsfirma Louis Schweizer, deren Industriebau an der Fritz-Schweizer-Straße noch heute das Stadtbild prägt. Nachdem die Fertigung schon in den 1970er Jahren in Backnang eingestellt worden war, geschah wegen der zu niedrigeren Kosten produzierenden ausländischen Konkurrenz ebendies 2002 auch in Murrhardt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gründeten die Lederfabrikanten Fritz und Richard Schweizer, zusammen mit dem aus dem Pelzzentrum Leipzig kommenden Rauchwarenhändler Richard Franke (1901–1976) und dessen Partner Walter Würker und den Gebrüdern Ohanian, in den Räumen der Lederfabrik eine Pelzzurichterei und Pelzveredlung, die Murrhardter Pelzveredlung – MPV. Unter verschiedenen Geschäftsführern entwickelte sich das Unternehmen, mit verschiedenen Schwesterfirmen und Beteiligungen (Handel: Ofra Rauchwaren OHG., Pelzkonfektion: WEPE, Pellio GmbH, und Pighetti) mit Pelzkonfektion, schnell zu einem führenden der Pelzbranche. Die Belegschaft der Pelzveredlung wuchs zeitweise auf über 300, bereits 1951 lag der Umsatz über 1,5 Millionen. Früh kam es zur Zusammenarbeit mit der am Ort ansässigen Kürschnerei Walter Pighetti.[2] In der Zeit des nachlassenden Pelzumsatzes wurde auch hier, bei allgemein rückläufigem Pelzumsatz etwa ab 1980, die Produktion im Vergleich zum Ausland zu teuer. Im Dezember 2015 wurde die Murrhardter Pelzveredlung – MPV wegen Insolvenz aufgelöst.[3][4] Noch 2024 befindet sich jedoch das, aus demselben Familienkreis stammende, Pelzveredlungs-Unternehmen Fell-Union GmbH in den Räumen der Lederfabrik.

Ende des 19. Jahrhunderts gründete die ortsansässige Familie Soehnle die gleichnamige Waagen-Firma (früher Fa. Epstein). Das Unternehmen brachte in den 1930er Jahren eine Säuglingswaage, die sogenannte „Reformwaage“ auf den Markt. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sie sich zu einem Industrieunternehmen. Sie war mit Produktionsstandorten in Murrhardt und in der Schweiz bis 2002 im Familienbesitz. Dann kam sie durch einen wirtschaftlichen Notverkauf an die Leifheit AG in Nassau. Aus Kostengründen wurde die Produktion von Haushalts- und Personenwaagen 2005 in Murrhardt aufgegeben und nach Nassau verlagert. Der Markenname lebte weiter. Durch ein Management-Buy-out verblieb der Waagenbau für Industrie, Handel, Gewerbe und Medizin unter der Firmierung Soehnle Professional GmbH & Co. KG zunächst in der Stadt; 2008 wurde dieser nach Backnang verlagert.

In der Zeit des Nationalsozialismus hieß die Hauptstraße „Adolf-Hitler-Straße“; Hakenkreuzfahnen wurden an staatlichen Feiertagen aufgezogen, „braune Bataillone“ hielten Umzüge ab.

Bei der Kreisreform während der NS-Zeit in Württemberg gelangte Murrhardt 1938 zum Landkreis Backnang.

Im Zweiten Weltkrieg wurden Murrhardt und seine Teilorte mehrfach angegriffen, wobei besonders die Bahnanlagen getroffen wurden. Ende 1944 bezog das württembergische Innenministerium die Murrhardter Stadthalle. Im April 1945, nach der Besetzung Württembergs durch die Amerikaner, wurde sie zum Feldlazarett. Der Gastwirt und Metzgermeister Wilhelm Mauser verhinderte mit der Entwaffnung eines Volkssturm-Mannes und seiner Hitlerjungen eine Verteidigung und damit die Zerstörung der Stadt. Mauser war ehemaliger kaiserlicher Marineinfanterist in Tsingtau/China, ehemalige deutsche Kolonie Kiautschou. Grund seines Eingreifens war die vorangegangene fast völlige Zerstörung von Fornsbach (Nachbarort) durch Artillerie und Luftwaffe der Amerikaner nach einem Verteidigungsversuch durch deutsche Truppen.

Die Amerikaner rückten am 19. April 1945 in Murrhardt ein. Murrhardt wurde Teil der Amerikanischen Besatzungszone und gehörte zum neu gegründeten Land Württemberg-Baden, das 1952 im Bundesland Baden-Württemberg aufging.

Weit bekannt war im 20. Jahrhundert der Gasthof „Sonne-Post“ mit seiner gehobenen Gastronomie. Am 20. Juni 1945 fand hier die Landrätekonferenz statt, mit den Landräten Nordwürttembergs aus der amerikanisch besetzten Zone. Sie wird als Beginn der demokratischen Neuordnung in Württemberg angesehen. Während der WM 1974 nahm die polnische Fußballnationalmannschaft in Murrhardt in der „Sonne-Post“ Quartier, da sie zwei ihrer drei Erstrundenspiele im Stuttgarter Neckarstadion austrug. Ihr Trainingsplatz war das Murrhardter Trauzenbachstadion. 1994 wurde der Gasthof „Sonne-Post“ von der Stadt Murrhardt gekauft. In dem Gebäude waren neben dem Bofingersaal, der für Gemeinderatssitzungen genutzt wird, zahlreiche Vereine untergebracht. Im Jahr 2016 wurde das Gebäude in historischem Gewand im Zusammenhang mit einer Wohnanlage für betreutes Wohnen in dem Quartier neu errichtet.[5]