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In Seite Ausnahmezustand:

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Eine kanonische Theorie des Ausnahmezustands gibt es im öffentlichen Recht nicht. Erst spät erschienen überhaupt monographische theoretische Auseinandersetzungen mit dem Thema. Eine erste Theorie des Ausnahmezustandes legte Carl Schmitt vor („Die Diktatur“, 1921 und „Politische Theologie“, 1922). Weitere Untersuchungen folgten: Herbert Tingsten („Les pleins pouvoirs: l'expansion des pouvoirs gouvernementaux pendant et après la grande guerre“, 1934), Frederick M. Watkins („The Problem of Constitutional Dictatorship“, 1940), Carl J. Friedrich („Constitutional Government and Democracy“, 1941), Clinton L. Rossiter („Constitutional Dictatorship“, 1948). Zuletzt unterzog Giorgio Agamben die entsprechenden theoretischen Ansätze einer Kritik („Ausnahmezustand“, 2004). Arbeiten zum Thema sind heute aber noch immer selten (siehe auch: Peter Blomeyer: Der Notstand in den letzten Jahren von Weimar, 1999).

Das Problem einer Theorie des Ausnahmezustands ist die Frage, wie eine Anomie in die Rechtsordnung eingeschrieben sein kann: „Wenn das Eigentümliche des Ausnahmezustands die (totale oder partielle) Suspendierung der Rechtsordnung ist, wie kann dann eine solche Suspendierung noch in der Rechtsordnung enthalten sein?“ (G. Agamben).

Nach Schmitt erschöpft sich Recht nicht im Gesetz. Die Anwendung des Rechts wird suspendiert, das Gesetz als solches bleibt aber in Kraft. Der Ausnahmezustand scheidet die Norm von ihrer Anwendung, um Letztere zu ermöglichen. Hierin zeigt sich für Schmitt auch die unreduzierbare Differenz von Staat und Recht, da im Ausnahmezustand der Staat bestehen bleibt, während das Recht zurücktritt. Da der Ausnahmezustand nicht Anarchie oder Chaos ist, besteht nach Schmitt im juristischen Sinne immer noch eine Ordnung, wenn auch keine Rechtsordnung. Schmitts Theorie will also eine Verbindung zwischen Ausnahmezustand und Rechtsordnung herstellen. Der Faktor, der es erlaubt, den Ausnahmezustand in der Rechtsordnung zu verankern, sei die Unterscheidung von „pouvoir constituant“ (konstituierende Gewalt) und „pouvoir constitué“ (konstituierte Gewalt) bzw. die Unterscheidung von „Norm“ und „Entscheidung“. Durch den Souverän, der über den Ausnahmezustand entscheiden kann, ist dessen Verankerung in der Rechtsnorm garantiert. Der Souverän steht außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung und gehört doch zu ihr, denn er ist zuständig für die Entscheidung, ob die Verfassung in toto suspendiert werden kann. Es ist somit die „topologische Struktur des Ausnahmezustands“, „außerhalb der Rechtsordnung zu stehen und doch zu ihr zu gehören“. Souverän ist nach Schmitts berühmter Definition dabei, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Hierbei ist Souveränität aber als letzte, nicht appellative Entscheidung verstanden und nicht, wie an anderer Stelle, als höchste, nicht abgeleitete Staatsgewalt. Hier laufen bei Schmitt zwei Souveränitätsbegriffe parallel, was sich allein daran zeigt, dass der pouvoir constituant zwar für ihn souverän ist, nicht aber über den Ausnahmezustand entscheiden kann. Dennoch ist es ein souveräner Akt, wenn ein pouvoir constitué per Entscheidung eine Verfassung suspendiert. Was Schmitt hier interessiert, ist dieses Element der Dezision, das sich im Akt der Entscheidung außerhalb der Rechtsordnung stellt und doch an diese gebunden bleibt, da die Wiederherstellung dieser Rechtsordnung einziger Auftrag ist.

Schmitt – und mit ihm auch die späteren Theoretiker – unterschied zwei wesentliche Ausprägungen der Diktatur. Die kommissarische und die souveräne (bei C.J. Friedrich lautet die Unterscheidung etwa „verfassungsmäßige“ und nicht „nichtverfassungsmäßige Diktatur“).

  • Kommissarische Diktatur: Der Diktator ist von rechtlichen Schranken befreit, aber an den Diktaturzweck gebunden, die geltende Verfassung zu verteidigen oder wiederherzustellen (siehe auch Schmitt: „Der Hüter der Verfassung“). Die kommissarische Diktatur hebt die Verfassung in concreto auf, um ihren konkreten Bestand zu schützen. Sie hat die Funktion, einen Zustand zu schaffen, in dem das Recht verwirklicht werden kann: „In seiner absoluten Gestalt ist der Ausnahmezustand dann eingetreten, wenn erst die Situation geschaffen werden muss, in der Rechtssätze gelten können“ (C. Schmitt). Die kommissarische Diktatur ist die typische rechtsstaatliche Regelung des Ausnahmezustands, da sowohl Voraussetzung wie Inhalt der diktatorischen Befugnisse tatbestandsmäßig umschrieben und aufgezählt werden. Im Rechtsstaat werden in Form der Verfassung alle staatlichen Funktionen in Zuständigkeiten abgegrenzt, um die staatliche Allmacht in einem System von Kompetenzen zu regulieren. So kann die Fülle der Staatsgewalt niemals in unvermittelter Konzentration auftreten. Die Diktaturgewalt ist hier also an einen definierten Auftrag (Kommission) gebunden.
  • Souveräne Diktatur: Die souveräne Form der Diktatur äußert sich darin, dass der Diktator nicht an die suspendierte Verfassung gebunden ist, sondern eine neue, präferierte Ordnung etablieren möchte. Hier kann es sich entweder um den souveränen Fürsten handeln, dessen souveräne Macht nie ganz durch die Sphäre der Verfassung eingegrenzt wird, oder – in der demokratischen Variante – durch die verfassunggebende Gewalt (Pouvoir Constituant) einer direkt gewählten Nationalversammlung. Dieser Pouvoir Constituant begründet die äußerste Form des Ausnahmezustands. Auch das Dritte Reich, gestützt auf eine sog. Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat, war eine souveräne Diktatur, da die Verfassung zwar formal in Geltung blieb, die Notverordnung aber nie aufgehoben wurde. Damit war das Dritte Reich gewissermaßen ein „Ausnahmezustand in Permanenz“ (Allan Bullock).

Die jüngste theoretische Auseinandersetzung mit dem Ausnahmezustand stammt – im Rahmen des Homo-sacer-Projekts – von Giorgio Agamben. Er stützt sich auf die vorgenannten Theoretiker, will ihnen aber eine eigene Deutung gegenüberstellen. Für ihn ist die Ausnahme ein Schwellwert der existierenden Rechtsordnung: „In Wahrheit steht der Ausnahmezustand weder außerhalb der Rechtsordnung, noch ist er ihr immanent, und das Problem seiner Definition betrifft genau eine Schwelle oder eine Zone der Unbestimmtheit, in der innen und außen einander nicht ausschließen, sondern sich un-bestimmen. Die Suspendierung der Norm bedeutet nicht ihre Abschaffung, und die Zone der Anomie, die sie einrichtet, ist nicht ohne Bezug zur Rechtsordnung.“ (G. Agamben). Diese Deutung bezieht sich auf das römische Institut des „Justitiums“ – des vorübergehenden „Rechtstillstands“, in dem alle Rechtsorgane ihre Tätigkeit einstellten und es verboten war, private Geschäfte zu tätigen – und radikalisiert damit die bisherigen Theorien des Ausnahmezustandes.