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In Seite Geisteswissenschaft:
"Über diese erkenntnistheoretischen Erörterungen hinaus führten jedoch auch politische und soziale Absichten zu solchen Schlüssen: Die Nützlichkeit technischer Neuerungen täuschte nach der Julirevolution von 1830 und der Märzrevolution von 1848 über den gescheiterten gesellschaftlichen Konsens hinweg. Die aufstrebenden Natur- und Ingenieurwissenschaften stützten mindestens vordergründig die restaurative Macht des Spätabsolutismus. Hermeneutik hat dagegen mit einem stets neu zu findenden und zu erhaltenden Konsens von Beobachtern zu tun und entzieht sich der empirischen Nachweisbarkeit in Spurensicherung oder Experiment, die mit Erfolg gegen ältere wissenschaftliche Methoden ausgespielt wurden. Um dem gewachsenen Anspruch auf Wertfreiheit und Objektivität zu genügen, musste sich allerdings auch die Hermeneutik vermehrt der Spurensicherung bedienen. Dieses Konzept einer Wissenschaft erschien Dilthey verteidigenswert.
Der Aufschwung der Naturwissenschaften seit Anfang des 19. Jahrhunderts war einhergegangen mit der Herausbildung neuartiger Disziplinen im Rahmen der alten Philosophischen Fakultät, die sich durch rigorose Methodik auszeichneten;[1] die alte Einheit war unwiederbringlich verloren. Damit war ein Großteil der alten Fächer in Frage gestellt. Das Konzept der Geisteswissenschaften half diesen, sich zu behaupten und zu modernisieren. So haben sich die alten Fakultätswissenschaften Theologie und Rechtswissenschaft erfolgreich als Geisteswissenschaften neu definiert.
Eine ähnliche und parallel laufende Unterscheidung ist die zwischen nomothetischen („regelsetzenden“) und idiographischen („beschreibenden“) Wissenschaften, die manchmal dazu dient, die Sozialwissenschaften als nomothetisch abzugrenzen. Sie geht auf Wilhelm Windelband zurück.
Ein weiterer wichtiger Faktor für die Entstehung der Geisteswissenschaften war das Verhältnis zwischen Universität und Staat: Im 19. Jahrhundert hatten sich die bürgerlichen Gelehrten, Künstler und Literaten einen Geistesadel und eine Hochkultur geschaffen, und diesen „Geist“ galt es nicht zuletzt gegenüber der führenden Oberschicht zu behaupten. Der Adel dagegen benötigte keine Reputation durch künstlerische oder wissenschaftliche Betätigung. Er zog sich zurück und tendierte eher zur populären Unterhaltung.
Ob eine Geschichtlichkeit von „Seelenvorgängen“ (Dilthey) etwas Kollektives sein kann, war nicht zuletzt eine politische Haltung. Georg Friedrich Hegel betrachtete den Geist als etwas Überindividuelles, nicht bloß Subjektives. Dies traf in einer Zeit der fehlenden staatlichen Einheit und der missglückten Emanzipation des Bürgertums von partikularisierenden Interessen des Adels auf breite Zustimmung. Mehr als in anderen Sprachgebieten ist im deutschen das Wollen und Handeln („Wirken“) eines gemeinschaftlichen Geistes behauptet worden. Aus dieser Tradition heraus entstanden Allgemeinbegriffe wie Zeitgeist, „Geist einer Nation“, „Geist einer Epoche“. Max Weber sprach von einem „Geist“ des Kapitalismus (Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 1904/05).
Dieser Begriff des Geistes, der Institutionen, Strukturen und Erklärungsmuster zu etwas von sich aus Lebendigem macht, blieb nicht unumstritten. So gab es immer den Vorwurf, dass die traditionellen Autoritäten de facto durch technische und bürokratische Apparate ersetzt worden seien, die die Willensfreiheit zum Sachzwang machten. Eine ähnliche Ansicht hat Friedrich Kittler mit seiner Forderung einer „Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften“[2] vertreten.
In der interdisziplinär angelegten Aktion Ritterbusch wurden Geisteswissenschaften in die völkische Ideologie des Nationalsozialismus und die Verherrlichung des Krieges eingebunden.
Als Gegenbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte eine starke Individualisierung. Die wissenschaftliche Würdigung großer Persönlichkeiten und ihrer Werke blendete mitunter ihre geschichtlichen Bedingtheiten aus. In der Literaturwissenschaft wurde die werkimmanente Interpretation üblich.
Der Titel der 1959 erschienenen These der Zwei Kulturen von C. P. Snow wurde zum Schlagwort: Geisteswissenschaften (englisch humanities) und Naturwissenschaften trennen unvereinbare Wissenschaftskulturen, die sich derart diametral gegenüberstehen, dass eine Kommunikation unmöglich scheint.[3] Als Reaktion auf diese stark rezipierte Studie erschien im Jahr 1995 John Brockmans Die dritte Kultur als Vision einer Vermittlung zwischen den Wissenschaften.[4]
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