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In Seite Mythos:

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Dass Mythen keine „primitiven“ Formen der Sinnbildung sind, sondern ausgefeilte Techniken, mit deren Hilfe eine Analogie zwischen Natur- und Sozialordnung begründet, stabilisiert und Sicherheit gestiftet werden kann, wird seit den Arbeiten von Claude Lévi-Strauss allgemein anerkannt. Sie haben eine epistemische (das Wissens- bzw. Glaubenssystem systematisch ordnende), soziale und anthropologische Funktion.[1]

1949 erschienen Lévi-Strauss’ Elementare Strukturen der Verwandtschaft, 1962 Das Ende des Totemismus und 1964–1971 das vierbändige Hauptwerk Das Rohe und das Gekochte. Mythos ist hier (wie für Edward Tylor, siehe unten) eine grundlegende protologische Struktur menschlichen Denkens in allen Kulturen: Im Verlauf eines Mythos kann alles geschehen, er weist keine Kontinuität auf. Dennoch kann das „wilde Denken“[2] wie alles Denken in Gegensatzpaaren geordnet werden, die nicht aus einer unbegrenzten Imagination heraus entstehen, sondern durch Beobachtung und Hypothesenbildung gewonnen wurden. Darin sind sie den Systematiken der modernen Welt ähnlich. Außerdem bieten diese Gegensatzpaare (wie das Rohe und das Gekochte, Exogamie und Inzest, wilde und gezähmte Tiere, Himmel und Erde, Über- und Unterbewertung der Blutsverwandtschaft durch Inzest und Vatermord usw.) eine Reihe von Lösungen für den Widerspruch, dass sich der Mensch einerseits als Teil der Natur und gleichzeitig als kulturelles Wesen erfährt.[3]

Dabei wird die Diachronie, die chronologische Anordnung der Handlung, in der Synchronie der Gegensatzpaare aufgehoben: „Man wird nicht zögern, Freud nach Sophokles zu unseren Quellen des Ödipusmythos zu zählen. Ihre Versionen verdienen dieselbe Glaubwürdigkeit wie andere, ältere und dem Anschein nach „authentischere“. […] Da ein Mythos aus der Gesamtheit seiner Varianten besteht, muss die Strukturanalyse sie alle mit dem gleichen Ernst betrachten“.[4] Kein Element des Mythos und keine Gruppe von Elementen hat für sich eine Bedeutung, weder eine wörtliche noch eine symbolische; sie gewinnen ihre Bedeutung erst aus der Beziehung auf andere Elemente bzw. Gruppen. Das Gleiche gilt für einzelne Mythen wie auch für das Verhältnis von Mythos und Ritual. Darin besteht die Anleihe bei der modernen strukturalistischen Semiologie, was Lévi-Strauss den Vorwurf eingetragen hat, die Mythen aus ihrem Zusammenhang gerissen zu haben.

Das dem Mythos immanente „wilde Denken“ (Lévi-Strauss) ist ebenso stringent wie das moderne Denken; es unterscheidet sich davon dadurch, dass es der Sphäre der konkreten Wahrnehmung angepasst ist, während das abstrakt-wissenschaftliche Denken davon abgehoben ist. Das wilde Denken ist „die Übersetzung eines unbewussten Erfassens der Wahrheit des Determinismus.“[5] Der Interpretation bietet sich derart „ein Schema, das dauernde Wirkung besitzt“.[6] Damit betont Lévi-Strauss wie Tylor die kognitionssteuernde Rolle der Mythen; die emotionalen Funktionen des Mythos, etwa seine Fähigkeit, existenzielle Ängste zu verarbeiten, treten in den Hintergrund. Die Handlung und damit die narrative Deutung seien gegenüber der Ordnung stiftenden kognitiven Struktur zweitrangig; die Syntax des Mythos ist sozusagen wichtiger als seine Semantik.

Als Lösung des Widerspruchs von Gegensatzpaaren im Mythos sieht der belgische Kulturanthropologe und Lévi-Strauss-Schüler Marcel Detienne, ein Mitbegründer der École de Paris, den in vielen (v. a. griechischen) Mythen erscheinenden Kompromiss zwischen den Extremen an. Solche Extreme bzw. Kompromisse auf den verschiedenen Ebenen des Mythos sind miteinander assoziiert. Während auf der Ebene der Ernährung das rohe Fleisch und der Salat das eine und die Gewürze das andere Extrem bilden, vermittele das gebratene Fleisch und das Getreide zwischen diesen Extremen. Auf einer anderen Ebene entspreche das dem Menschen, der zwischen dem Tierreich und den Geistwesen stehe. Diese wiederum werde mit den sonnengereiften Gewürzen assoziiert, während rohes Fleisch mit Kälte und dem Winter verbunden sei. Salat und rohes Fleisch stehen für Enthaltsamkeit, Gewürze symbolisieren sexuelle Ausschweifungen und Promiskuität. Dazwischen stehe die Ehe, die durch Getreideanbau und gebratenes Fleisch repräsentiert werde. Die Verteilung der Opfergaben sei dazu analog: So gehen die Gewürze an die Götter, ihr Rauch steigt zum Himmel empor.[7]

Auch Georges Dumézil[8] behandelt Mythen nicht in historischer Perspektive, sondern ist am Strukturvergleich interessiert. Er versucht Strukturen unter der Oberfläche der Mythen der altindoeuropäischen Völker nachzuweisen, die anders als bei Lévy-Strauss keine Ordnung des Denkens in Gegensatzpaaren, sondern in drei Klassen aufweisen, welche die Mythen, das Pantheon und die gesamte sakrale Lebensordnung strukturieren. Diese sog. „trifunktionelle Ideologie“ bildet seit mindestens 1500 v. Chr. die drei Hauptklassen oder Kasten der indoeuropäischen Völker ab: Priester (Herrschaft), Krieger und Bauern (Wachstum) und findet sich auch im Götterhimmel. Ihre Entdeckung wurde wichtig für die Entwicklung der vergleichenden Religionswissenschaft. Die Götter haben nach Dumézil einerseits eine magische, andererseits eine richtende Funktion. Die Identität zweier Götter ergibt sich aus ihrer analogen Funktion im jeweiligen Pantheon. Allerdings passt die Dreiteilung z. B. nicht zur nordischen Mythologie, die keine Priester, dafür aber Sklaven kennt. Witzel hält die von Dumézil untersuchten Mythensysteme für den Versuch, im Prozess der Bildung von frühen Staatsgebilden die unteren Klassen und Kasten vom mythischen Privileg göttlicher Abstammung auszuschließen. Während die Klassen der Arya ihre Abstammung auf die Sonne zurückführten, wird die untere Klasse im Sanskrit als अमानुष (amānuṣa), nicht menschlich oder un-menschlich bezeichnet.[9]

Andere strukturelle Klassifikationsansätze stammen von Mislav Ježic und Franciscus Bernardus Jacobus Kuiper. Das in der Mythenforschung vorherrschende gedankliche Vorbild ist das der stammbaumartigen Klassifizierung der indoeuropäischen Sprachen, die die Rekonstruktion einer hypothetischen Ursprache erlauben soll. Bruce Lincoln kehrt das Modell um und analysiert die Verzweigungen der ursprünglichen indoeuropäischen Mythen (z. B. des Narrativs vom Brüderpaar *Manu – ein Priester, der strukturell Odin oder Romulus entspricht – und *Yemo – Ymir oder Remus, ein König, wobei der Viehraub eine zentrale Rolle spielt).[10] Diese Mythenadaptionen interpretiert Lincoln in der Tradition Antonio Gramscis als autoritative (ermächtigende) Narrative, durch welche die Klassengrenzen wie in Dumézils System gezogen werden.

Michael Witzel untersucht die Mythen vieler Völker aus sprachwissenschaftlicher Sicht und in vergleichender sowie historischer Perspektive. Er erweitert das strukturell-genetische Modell der Indogermanistik durch den Strukturvergleich mit Mythen aus sämtlichen anderen Sprachgroßräumen und bezieht historische Aspekte in die vergleichende Analyse ein. Dabei kritisiert er das Mythenverständnis von Robert Bellah,[11] der in seiner Unterscheidung der Stadien religiöser Entwicklung ein primitives vorneolithisches Stadium postuliert, in dem physische Phänomene direkt durch mythische Figuren repräsentiert werden, die untereinander unverbunden sind und einzeln verehrt werden, und ein zweites archaisches Stadium mit Vorstellungen einer systematischen göttlichen Ordnung, die sich in Mythensystemen ausdrückt. Auf dieses folgt nach Bellah wiederum das Stadium der historischen Religionen. Doch nur weil es keine archäologischen Hinweise auf komplexe spätpaläolithische Mythen gebe oder weil die Existenz von Abbildungen schamanistischer Aktivitäten auf frühen Höhlenmalereien vereinzelt bestritten werde,[12] könne nach Witzel deren Existenz zufolge nicht ausgeschlossen werden. Aus der Tatsache, dass einfache Jägerkulturen kaum archäologische Spuren hinterlassen, dürfe nicht der Schluss gezogen werden, dass sich in der Zeit von 50.000 bis 20.000 v. Chr. keine Evolution komplexer Mythen vollzogen habe. Komplexe syntaktisch gegliederte Sprache gebe es immerhin seit 40.000 bis 50.000 Jahren,[13] so dass orale Traditionen seit dieser Zeit verbal weitergegeben werden konnten.[14] Er datiert den Ursprung strukturierter Mythen auf die Zeit der spätpaläolithischen Felsmalerei und billigt ihnen gerade in strukturierter Form (als story-line) eine große Stabilität bei ihrer Überlieferung zu.

Die bleibende und aktuelle Gültigkeit der Struktur des Mythos ist Thema der Semiologie, etwa in Roland Barthes Mythen des Alltags, wobei dieser sich extrem kritisch zur „Lesbarkeit“ des Mythos äußert: „Der Verbraucher des Mythos fasst die Bedeutung als ein System von Fakten auf. Der Mythos wird als ein Faktensystem gelesen, während er doch nur ein semiologisches System darstellt.“[15]

Kritisch ist die Stellung der Postmoderne zum Mythos als Welterklärungsmodell, wie schon am Titel des Anti-Ödipus[16] von Deleuze/Guattari ersichtlich. Im Vorwort zum zweiten Band Mille Plateaux heißt es zu Nietzsche: „Nietzsches Aphorismen brechen die lineare Einheit des Wissens nur auf, um im gleichen Zuge auf die zyklische Einheit der ewigen Wiederkehr zu verweisen, die im Denken als Nichtgewusstes anwesend ist.“[17]

Für die meisten Poststrukturalisten und Linguisten (wie schon für Albert Camus) sind Mythen also autonome Texte, die von jeder rituellen Praxis getrennt sind und über deren Ursprung und Zweck zu spekulieren sich verbietet.